Lernen in flimmernden und lärmenden Zeiten

03_16aHaiger, 16.03.2012.

"Schulbank drücken" hieß es jetzt für die Lehrkräfte und Eltern der Haigerer Johann-Textor-Schule. Zum Thema "Bewegtes Lernen in rasenden, lärmenden und flimmernden Zeiten", konnten die Pädagogische Leiterin Anette Fritsch und Elternbeiratsvorsitzender Hartmut Jaeger zwar nur wenige Eltern in der Aula begrüßen, doch diese hörten einen sehr fundierten Vortrag von einem, der es wissen muss: Der gelernte Diplomsportlehrer, Motopädagoge und Kinderarzt Peter Pastuch aus Kühsen in Schleswig-Holstein ist seit 2000 freiberuflich als Fortbilder und Schulberater tätig.

"Wir leben in rasenden Zeiten, die so schnelllebig sind, dass selbst wir Erwachsenen nicht damit zurecht kommen", meinte Pastuch und forderte die Zuhörer auf, darauf zu achten, wie oft das Wort "schnell" im Sprachgebrauch vorkommen. "Schnell" sei kein Qualitätsmerkmal: "Wir müssen die Dinge erst richtig machen, bevor wir sie schnell machen." Gerade in Erziehung habe das Wort "schnell" nichts zu suchen. "Schnell" die Kinder zum Sport fahren, "schnell" wichtige Dinge erledigen - all das nehme Qualität aus der Erziehung.

"Flimmernde Zeiten" seien in die Kinderzimmer und Elternhäuser eingezogen. Dabei könnten Erwachsene die irrealen Bilderwelten zum Teil klären. Die Kinder aber seien nicht in der Lage, zu differenzieren. Mit einer ununterbrochenen Beeinflussung durch Töne seien auch "lärmende Zeiten" angebrochen. Dies ist nicht nur gesundheitsschädlich", machte Pastuch klar: "Da der Sitz des Gehörs äuch hauptverantwortlich für die Körperlichkeit ist, hat es Auswirkungen auf Haltung und Bewegung." Gerade das Verhältnis der Augen-Hand-Koordination werde durch die Reizüberflutung negativ beeinflusst. Die "vereinfachte Ausgangsschrift" sei eine Folge davon und führe dazu, dass die Kulturtechnik der Schrift verloren gehe.

Wie sehr die Kindheit durch die Entwicklung an Qualität verliert, machte Pastuch an einem Beispiel klar: Ein kleines Kind sitzt vor einer Spielkonsole. Mit zwei Fingern bedient es die Controller, während das Kind auf dem Display der Konsole Gummitwist springt. Guck mal, ich kann Gummitwist springen" freue sich das Kind - das tatsächlich dieses Können aber nicht besitze. Die Medien sorgten dafür, dass Menschen sich selbst nicht mehr einschätzen und sich daher nicht mehr gesellschaftlich einordnen könnten.

Dieses Prinzip habe Auswirkungen auf das Lernen. Dabei werde zunächst die Wahrnehmung auf drei Ebenen angesprochen. Hierbei sei die Wahrnehmung mit allen Sinnen wichtig, sie funktioniere gut unter Bewegung. In der zweiten Phase werde das Gehörte oder zu Lernende auf seinen Wert überprüft. Am Ende entstehe eine eigene subjektive Bedeutung des Wahrgenommenen. Schließlich werde das Erlernte "gesichert", um es bei Bedarf verfügbar zu machen.Dieses "Sichern" funktioniere bei sensorischer Entlastung durch Bewegung und im Schlaf, erklärte Pastuch. Das Gehirn brauche Zeit, um zu sortieren.03_16b "Während des Tiefschlafes läuft im Gehirn ein Feuerwerk an Potenzialen ab." Die Schule könne mit den besten Methoden machen, was sie wolle: "Wenn Ihre Kinder nachts nicht ausreichend schlafen, können Sie das alles vergessen." Früher sei ein Mittagsschlaf normal gewesen, doch heute sei der Kinderalltag anders organisiert. Es gebe "nichts mehr, was das Kind selber tut". "Früher hatten die Kinder Erlebniszeiten, Spiele ohne Erwachsene und mit selbst vereinbarten Pausen." Selbstsicherheit entstehe durch das eigenen Sichern von Erlebtem und Wahrgenommenem. "Doch wie sollen Kinder sich so selbst finden? Wie soll sich Sicherheit entwickeln, wenn Kindern den notwendigen Entwicklungsreizen ausweichen?" Hier seien Eltern gefragt, Klarheit in Handlungsabläufe zu bringen. Dabei sollten sie sich nicht zu "Wunscherfüllern" ihrer Kinder machen, sondern als Erwachsene für klare Strukturen sorgen, in denen Kinder sich ausprobieren könnten.

Anhand eines Schwamms in Netzstruktur erklärte Pastuch, wie das Gehirn funktioniert. Seine Finger erzeugten den Druck, den Schule und andere Lebenswelten auf das kindliche Gehirn ausüben. Diese legten sich zwar um das Gehirn, drangen aber nicht tiefer, denn: "Unter Druck kann das Gehirn nicht speichern, sondern nur in Entlastung." Je mehr Druck ausgeübt werde, umso weniger komme raus. "Sorgen Sie für ausreichend Entlastung", forderte der Referent die Eltern auf: "Langeweile ist etwas Wunderschönes, denn es verweilt etwas lange mit großer Nachhaltigkeit."

Ein wohl ausgewogener Ablauf von Lernen und Entlasten, von Arbeit und Pause spiele eine entscheidende Rolle. Diese komplexe Sicht des Themas "Lernen" werde häufig in dem Begriff "Rhythmisierung" zusammengefasst. Nur ein "Harmonisches Ganzes" könne die teilweise erschreckende Disharmonie, Unausgewogenheit und Strukturlosigkeit vieler Schüler und Schülerinnen beeinflussen. Unterrichts- und Pausenzeiten bewegungsfreundlich zu gestalten lohne sich für alle. Die Konzentration der Schüler sei nach einer Bewegungseinheit deutlich besser, Unruhe oder Aggressionen würden in "bewegten Pausen" abgebaut.

Im Schuljahr 2009/10 wurde an der Johann-Textor-Schule eine "AG Pausen- und Schulhofgestaltung" gegründet, die sich mit diesen Zusammenhängen beschäftigte. Die Arbeitsgemeinschaft hat im Schuljahr 2010/2011 eine Fibel erstellt, in der die Lehrkräfte sowohl für den Fachunterricht als auch für den Vertretungsunterricht Anregungen für einen "bewegten" Unterricht finden. Außerdem wurden Materialkisten mit Spielen und Geräten sowohl für Bewegungs- und Entspannungseinheiten im Unterricht und in den Pausen ausgewählt und angeschafft.

(Mit freundlicher Genehmigung des Haigerer Kuriers, 16.03.2012, Text und Foto: Ute Jung.)