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Rechtsradikale nicht totschweigen

Haiger/Driedorf, 10.11.2012.

Nachdem die Zehntklässler der Johann-Textor-Schule Haiger sich während eines Projekttages am Donnerstag mit Themen wie Rassismus und Fremdenfeindlichkeit beschäftigt hatten, stand abends eine Diskussionsrunde mit Mitarbeitern aus der Sozialarbeit der Schule und der kommunalen Jugendpflege, sowie mit städtischen und schulischen Vertretern auf dem Programm. Ernst Richter, in Wetzlar aktiv gegen Neofaschismus, hatte die Moderation des Gespräches übernommen.

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Hierbei wurde schnell klar: Es gibt Rechtsradikalismus und Neofaschismus auch in Haiger und Umgebung. Von der Öffentlichkeit wird dies nicht mehr so wahrgenommen, da die Personen kaum mehr öffentlich auftreten, sondern sich in Kneipen und Waldhütten im privaten Bereich treffen. Es gibt auch christliche Jugendgruppen mit rechtsradikalen Merkmalen.

Zufällig bei einem rechts-radikalen Treffen anwesend, bemerkt einer der Schüler: "Ich bin der Einzige hier mit Haaren. Ihn stören die Hitlergrüße und die rechtsradikale Musik. Was ihm noch auffällt: "Die Leute hatten intellektuell keinen hohen Anspruch." Aber ihm wird auch klar, wie schnell jemand in die rechte Szene abrutschen kann: "Wenn du frustriert und ohne Arbeitsplatz bist, bist du sicherlich offener dafür."

Das bestätigt Richter: Schnell werden die "scheiß Türken" zum Sündenbock, wenn ein junger Mensch keine Arbeit findet. Aber er warnt davor, Neofaschisten nicht ernst zu nehmen: "Es gibt viele verkrachte Existenzen unter den Nazis, aber sie haben auch kluge Köpfe und Intellektuelle." Es gebe beispielsweise studierte Politikwissenschaftler, die für die NPD im Landtag sitzen. Auch kleidungsmäßig würden sie nicht mehr unbedingt als Rechtsradikale auffallen, würden oft Palästinensertücher tragen und den Kleidungsstil von linken Autonomen übernehmen.

Für Sigrun Schmidt, stellvertretende Stadtverordnetenvorsteherin in Haiger, die als Vertretung für Haigers Bürgermeister Dr. Gerhard Zoubek an der Diskussion teilnahm, ist das rechtsradikale Potenzial in Haiger Motivation für politische Betätigung. "Wir sollten diese Tendenzen in Haiger nicht totschweigen, aber auch nicht überbewerten", erklärt sie. Es gelte, sich sorgsam für schwächere und diskriminierte Menschen zu engagieren. Als SPDlerin habe sie auch schon eine gewisse Bedrohung durch Pöbeleien Rechtsradikaler erlebt und als schlimm empfunden. Im Kreistag, in dem zeitweilig auch Vertreter der NPD gesessen hätten, habe sie sich bemüht, diese zu ignorieren. "Immerhin waren auch sie ja gewählte Vertreter unseres Volkes." Bei zu menschenverachtenden Beiträgen der NPD habe sie aber auch schon mal den Sitzungssaal demonstrativ verlassen: "Einmal wurde aufgrund seiner Äußerungen ein NPD-Abgeordneter von der Polizei aus dem Sitzungssaal getragen.

11 10bIn der Schule und in der kommunalen Jugendpflege scheint derzeit keine besondere Konzentration Rechtsradikaler vorhanden zu sein. Schulischerseits steht die Sozialarbeiterin Veronika Metz bei Problemen zur Verfügung. Angela Schlösser und Mark Wirth stehen im "Paju" am Paradeplatz als Ansprechpartner für junge Leute bereit und haben auch gemeinsame geschlechts-spezifische Angebote mit der Sozialarbeit der Schule. Bei Problemen kommen die Jugendlichen zu ihnen. Von einer Häufung von Vorkommnissen mit rechtsradikalem Hintergrund ist auch ihnen nichts bekannt.

Doch es gibt ein Netzwerk: Die "A45 Connection", wie sie sich nennen, erklärt Richter. Ihr Kampfmotto sei: "Das Hinterland in unsrer Hand." Ihnen sei die NPD zu brav: "Sie wollen den Kampf auf der Straße." Diese autonomen Nationalisten hätten eine Gruppe in Wetzlar und eine in Herborn. In Siegen säße dann die nächste Truppe, bei denen einige einschlägig vorbestraft seien und Kontakte nach Dortmund-Dorstfeld hätten. "In Westdeutschland zählt Dortmund zu den Städten mit der etabliertesten und zahlenmäßig stärksten Neonazi-Szene. Im Ruhrgebiet ist es der absolute Hot-Spot", so die Information von Jan Schedler, der ein Buch über autonome Nationalisten verfasste, in einem Interview.

Aus diesem Stadtteil sei eine Pastorin, die sich gegen den rechten Terror gewehrt habe, schließlich weggezogen, erläutert Richter. Die Polizei sei anscheinend nicht in der Lage, dieses Gebiet zum einem Schwerpunkt ihrer Ermittlungen zu machen. Der Weg, eine rechtsradikale Gruppierungen wegen irgendwelcher Vorkommnisse bei der Polizei zu melden, entpuppe sich oft im Nachhinein als der falsche Weg: "Die Polizei muss den Angezeigten anschreiben oder vorladen. Rechtsradikale haben auch meist Anwälte, die mit ihnen sympathisieren. Und die bekommen dann den Namen und die Adresse der anzeigenden Person."

Richters Appell an die Gesprächsrunde: "Überlegt mal, wie ihr in Haiger eine Instanz findet, der sich jemand anvertrauen kann und die dann "den Buckel dafür hinhält." Robert Kroha, Leiter des Hauptschulzweiges der Johann-Textor-Schule, sieht solche Institutionen schon vorhanden. Es müsste eventuell nichts Neues geschaffen werden, sondern auf vorhandene Netzwerke zurückgegriffen werden. Richters Schlusswort zu den Schülern: "Es freut mich, dass ihr in einer Schule lernt, die Menschenrechte auch im Schulalltag auslebt."

Der Projekttag in Heisterberg fand auf Initiative der Fachdienstes für Kinder- und Jugendförderung des Lahn-Dill-Kreises und der Bezirksjugendringe Wetzlar und Lahn-Dill statt. Die Teilnahme war für die Schüler kostenfrei, da die Finanzierung aus dem Bundesprogramm "Toleranz fördern - Kompetenz stärken" erfolgte. Neben der Johann-Textor-Schule nahmen in den vorangegangenen Tagen auch Schulen aus Solms, Dillenburg, Hüttenberg-Rechtenbach und Lahnau am Projekt teil.

(Mit freundlicher Genehmigung des Haigerer Kuriers, 10.11.2012, Text und Fotos: Ute Jung.)

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