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Zum Nachdenken angeregt

Haiger, 06.05.2013.

Sehenswert, nachdenkenswert, aber kein leichter Stoff war das, was die Schauspieler des Kurses "Darstellendes Spiel" der Jahrgangsstufe 10 der Johann-Textor-Schule am Freitag- und Samstagabend ihrem Publikum servierten. Thorsten Tobor, Lehrer an der JTS und ausgebildeter Regisseur, hatte die Theaterfassung des Romans "Fremde Signale" geschrieben und für die Aufführung mit Jugendlichen umgestaltet.

Am Ende der Aufführung musste jeder Zuschauer für sich die Handlung noch einmal rekapitulieren, denn zu überraschend war das Finale. Der Betrachter musste für sich die Frage klären, ob die drei "Schutzengel" Nathalies nur ihrer Phantasie entsprungen waren oder es sich um einst real existierende Personen handelte? Fast schien es so, denn was die vom Krebs genesene Nathalie auf der Bühne ihren Freunden präsentierte, waren im Karton verwahrte Erinnerungsstücke und Dokumente an jene drei Toten, die sie seit ihrer Geburt beschützten.

Die drei Schutzengel haben mit der Fürsorge für Nathalie, die sie als Baby kennen lernen, wahrlich keine leichte Aufgabe übernommen.Die "Schutzengel" werden im Stück vorgestellt. Da ist der russische Kriegsheld Michail, dessen Leben viel zu früh, mit noch nicht einmal 18 Jahren, auf dem Kriegsfeld "abbrach". Am Sterbebett seines Vaters kann der Sohn plötzlich mit dem Todgeweihten kommunizieren. Michail erklärt: "Nathalie und ich. Anna, Magdalena, Nathalie und ich. Wir gehören zusammen."

Da ist Magdalena, fast noch ein Kind mit ihren 15 Jahren. Sie ist vor über 200 Jahren während einer Epidemie verstorben. Magdalena sagt: "Ich weiß nicht genau, was ich bin. Ich passe auf Nathalie auf. Nicht lebendig, nicht tot, nicht sichtbar, nur anwesend."

Und die 16-jährige Anna ist eben erst gestorben. Sie war gerade dabei, sich zu verlieben, als sie krank wurde. Der Krebs hat sie dahingerafft, und ihre Eltern trauern noch. Die Kommunikation funktioniere nicht über Worte, sondern über Signale, fremde Signale, sagt sie: "Herausgelöst aus dem Zeichennetz der Sprache."

Das Trio sieht Nathalie schon, als sie noch im Mutterleib weilt, erlebt staunend die Geburt und ist fortan um die Kleine besorgt. Die wächst in einer großen und reichen Familie, aber isoliert und einsam, auf.
Wenn da die drei Toten nicht wären. Die greifen immer wieder ins Geschehen ein. Als die kleine Nathalie zu viele Lavendelblüten isst und erkrankt, sorgen sie dafür, dass sie ins Krankenhaus kommt und als die große Nathalie tollkühn Auto und Motorrad fährt, haben sie wirklich alle Hände voll zu tun.

Nathalie hat all das, was Michail unter Frieden versteht: "Wasser, Heizung, Haus aus Stein, schnelles Auto und genug zu essen." Dabei ist sie anders als ihre Mitschüler und Geschwister, sie schreibt Gedichte und philosophiert. Während andere eifrig lernen, macht sie sich Gedanken über Wolken und die unnütze Zahl Null. Während ihre Geschwister sich um ihr eigenen Wohlergehen kümmern, bemüht sie sich um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter.

Nathalie (2.v.1.) feiert lieber eine Party mit Freunden als für die Schule zu lernen.Erwachsen werdend, provoziert sie gerne, hängt mit Freunden ab, lernt nicht und lebt immer riskanter. Die tote Anna erkennt: "Nathalie will nichts aus ihrem Leben machen."

Die drei "Schutzengel" haben ein Problem: Sie können alles sehen, aber sie können nichts retten. Und so erleben sie, wie Nathalie unbedacht heiratet und die Ehe in die Brüche geht. Statt zu studieren, ist sie Krankenschwester geworden. Und: Nathalie macht Karriere als Schriftstellerin. Auf dem Höhepunkt ihres Ruhms erkrankt sie an Krebs und fürchtet, sterben zu müssen. Und - während auf der Bühne das Leben von Nathalie weitergeht - wird parallel gezeigt, wie das Leben von Michail, Anna und Magdalena zu Ende geht.

Nathalie lebt weiter und philosophiert: "Wo sind eigentlich all die toten Menschen, die wir gekannt und geliebt haben? Kindern sagt man, sie seien im Himmel. Der Himmel ist ein weites Feld und lässt vielen Vorstellungen Raum. Wo immer die Toten sein mögen, sie leben fort in ihren Nachkommen, Taten, Gedanken und Zeugnissen: Gestorben sind sie immer, tot sind sie selten."

Die Parallelität der vier Handlungsstränge sorgt manchmal für etwas Verwirrung. Denn die Personen sind in den einzelnen Handlungen gleich besetzt. Und so geht beispielsweise die schwangere Mutter Nathalies von der Bühne, um wenige Sekunden später in einem Kostüm die Mutter von Anna, Magdalena oder Michail darzustellen. Da sich auch die Charaktere unterscheiden, bedeutete dies eine Riesenherausforderung, die die jungen Darsteller mit Bravour meisterten. Da gab es viel Applaus und Begeisterung, als alle Darsteller und ihr Lehrer auf der Bühne stehen.

Für die Zehntklässler Ann-Sophie Bartolomäus, Lukas Rehm, Melissa Franz, Johanna Süß, Stefanie Cloos, Philipp Gräfe, Julius Heinke, Damaris Widerstein, Alina Triesch, Bünyamin Simsek, Lukas Kaiser, Leba Siebelist, Tilman Knop, Anna Wirth, Lena Tappert, Marius Moos, Katharina Geiß, Saskia Weiß, Lisa Terawieh, Alsia Neef und Silas Benedikt war es die letzte Theateraufführung an der Schule.

Direktor Dr. Gerald Lohwasser lobte das Engagement der Schüler und ihres Lehrers. Dies gehe weit über das normale Maß hinaus. Als "eine der schönsten Zeiten meines Lehrer-Lebens" bezeichnete Regisseur Tobor die Aufführungen.

 

(Mit freundlicher Genehmigung des Haigerer Kuriers, Text und Fotos: Ute Jung.)

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