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War der Mauerfall ein Wunder?

Haiger, 25.09.2014

War der Mauerfall ein Wunder? Für Albrecht Kaul, 1944 in Chemnitz geboren, ist die Antwort klar: "Natürlich!" Der bekennende Christ und DDR-Zeitzeuge gestaltete an der Haigerer Johann-Textor-Schule einen Geschichtsunterricht der besonderen Art für Schüler des Jahrgangs 9 und der  10R-Klassen. Gemeinsam mit der Kirchengemeinde Allendorf hatte der Fachbereich Religion zur Veranstaltung "Wunderjahr 1989" eingeladen.

Das Wunderjahr 1989Kaul war bis 2009 stellvertretender Generalsekretär des CVJM-Gesamtverbandes in Deutschland und schilderte seine persönliche Sicht auf die Entstehung der DDR, das Leben dort und die Zeit des Mauerfalls. In seinem 90minütigen Vortrag in Gesprächsform, der durch TV-Ausschnitte aufgelockert wurde, ging Kaul auch auf die Nachkriegsjahre ein, in der aus vier Besatzungszonen zwei deutsche Nationen entstanden.

Bis die Mauer 1961 die beiden Staaten trennte, seien "drei Millionen Ostdeutsche in den Westen geflüchtet", berichtete Kaul. "Was war demokratisch in der DDR, die den Begriff 'Demokratie' im Namen führte?", fragte Moderator Martin Scott. Es sei eine "sehr besondere Art der Demokratie" gewesen. "Der Staat gab vor, was die Menschen zu denken haben." In der DDR habe Wahlpflichtbestanden, erläuterte er weiter. Die Regierung habe die "Wahlliste" erstellt und am Wahltag sei die Bevölkerung zu den Urnen gegangen, um das vorbereitete Papier dort einzuwerfen.

Ein Kreuzchen habe man nicht setzen können. Die einzige Wahlmöglichkeit sei gewesen, nicht zur Wahl zu gehen. Doch das hatte Konsequenzen. Alle Nichtwähler wurden am späten Wahltag persönlich aufgesucht. Weigerten sie sich, die Wahlliste abzugeben, gab es einen Vermerk in der Personalakte. Das hatte Auswirkungen, wenn der Nichtwähler im Beruf aufsteigen oder eine Baugenehmigung einholen wollte.

Kaul gewährte auch Einblicke in die Reisegewohnheiten der DDR-Bürger. "An der Ostsee durften sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr an den Strand, weil eine Flucht nach Dänemark befürchtet wurde." Viele persönliche Anekdoten gab Kaul weiter. Grafiken, Bilder, Filmsequenzen und TV-Aufnahmen rundeten den Dialog ab.

Der Referent absolviert eine Ausbildung zum Maschinenbauer und träumt als Jugendlicher davon, sich die Welt anzuschauen. Im Alter von 16 Jahren reist er einmal nach West-Berlin. Doch der Mauerbau, den er mit 17 erlebt, lässt seine Träume von der großen weiten Welt platzen. "Die DDR'ler waren 'Der dumme Rest', der nicht vor dem Mauerbau ging", blickte er zurück. Aus Sicht der Regierenden sei der Mauerbau eine gute Entscheidung gewesen: "Sonst wären alle DDR-Bürger geflüchtet."

Nach drei Jahren wechselt er den Job und arbeitet in der christlichen Jugendarbeit, was Probleme mit sich bringt. Er wird durch "Vergehen", aktenkundig - zum Beispiel ein Sommerlager, das statt der erlaubten sieben zehn Tage dauert. Erst nach der Wende erfährt er, dass er ausspioniert wurde und seine Verhaftung geplant war.

Kaul erlebt das "Wunderjahr 1989", das in den Kirchen mit Friedensgebeten begonnen hatte, und am 9. November 1989 zur Maueröffnung führt, hautnah mit. Mitte der neunziger Jahre wechselt er zum CVJM nach Kassel und damit "vom schönen Sachsen nach Hessisch-Sibirien". Im Anschluss an den Vortrag, durften die Schüler Fragen stellen. Die Dialogform des Vortrags, kam bei den Zuhörern gut an.

Kaul, seit 2009 Rentner, ist Autor mehrerer Bücher. Sein Werk "Im Land des roten Drachens" berichtet von Reisen nach China, bei denen er sowohl Bekanntschaft mit den dortigen Christen als auch mit der Polizei macht. Das Projekt "Wunderjahr 1989" wurde 2009 uraufgeführt. Seither geht Kaul mit einem Team auf Tour, um die Frage zu klären, wie die Mauer fiel und warum es sich dabei um ein Wunder gehandelt haben muss.

(Mit freundlicher Genehmigung des Haigerer Kuriers, Text und Foto: Ute Jung.)

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